Das ehrgeizige Veilchen
©Carsten Somogyi |
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Es war einmal ein schönes, wohlriechendes Veilchen, das friedlich unter seinen Freunden
wohnte und sich glücklich mit den anderen Blumen in einem abgelegenen Garten wiegte.
Eines Morgens - seine Krone war mit Tautropfen verziert - hob es seinen Kopf und sah sich
um. Es erblickte eine hübsche Rose, die stolz dastand und hoch in den Himmel reichte, so
wie eine brennende Fackel auf einer smaragdfarbenen Leuchte.
Das Veilchen öffnete seine blauen Lippen und sagte: "Was bin ich doch für ein unglückliches
Geschöpf unter diesen Blumen, und wie niedrig ist die Stellung, die ich unter ihnen
einnehme. Die Natur hat mich kurz und arm gemacht. Ich lebe nahe der Erde und kann
meinen Kopf nicht zum blauen Himmel erheben oder mein Gesicht der Sonne zuwenden, wie
es die Rosen tun." Als die Rose die Worte ihrer Nachbarin vernahm, lachte sie und meinte.
"Wie seltsam ist deine Rede! Du bist glücklich und dennoch bist du nicht imstande, dein
Glück zu verstehen. Die Natur hat dich mit einem Duft und einer Schönheit beschenkt, die
sie niemand anderem gewährte. Vergiss deine Gedanken, sei zufrieden und bedenke, dass,
wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden, wer sich aber selbst erhöht, wird zermalmt
werden."
Das Veilchen gab zur Antwort: "Du hast leicht reden, denn du besitzest, wonach ich
verlange… Du suchst mich zu verbittern in der Meinung, du seiest großmütig… Wie
schmerzhaft ist die Predigt des Glücklichen für das Herz des Unglückseligen! Wie streng ist
doch der Starke, wenn er als Ratgeber unter Schwachen steht!"
Die Natur hörte das Gespräch zwischen dem Veilchen und der Rose. Sie trat hinzu und
sagte: "Was ist dir geschehen, Tochter Veilchen? Du warst immer bescheiden und süß in all
deinen Taten und Worten. Hat die Gier Eingang in dein Herz gefunden und dein e Sinne
verdunkelt?" Das Veilchen antwortete ihr mit einen Ton der Verteidigung in der Stimme und
sagte: "Große und barmherzige Mutter, voll der Liebe und Sympathie, ich bitte dich von
ganzem Herzen, mir meine Bitte zu gewähren und mir zu erlauben, einen Tag lang eine Rose
zu sein." Die Natur antwortete: "Du weißt nicht, was du dir wünscht. Du bist dir nicht
bewusst, welche Katastrophe sich hinter deinem blinden Ehrgeiz verbirgt. Wenn du eine Rose
bist, wird es dir leid tun und nutzlose Reue wird dich befallen." Das Veilchen aber bestand
auf seinem Wunsch. "Verwandle mich in eine große Rose, denn ich möchte mein Haupt mit
Stolz emporheben. Und egal, was mein Schicksal sein wird, ich werde dafür verantwortlich
sein." Die Natur gab nach und sagte: "Unwissendes und rebellisches Veilchen, ich will dir
deine Bitte gewähren. Aber wenn Unglück über dich kommt, musst du dich bei dir selbst
beklagen." Die Natur streckte ihre geheimnisvollen Zauberhände aus und berührte die
Wurzeln des Veilchens. Augenblicklich verwandelte sich das Veilchen in eine große Rose und
war höher als alle anderen Blumen des Gartens.
Zur Abendzeit wurde der Himmel schwer mit schwarzen Wolken, und die aufgebrachten
Elemente störten die Ruhe des Lebens mit ihrem Donner. Sie begannen den Garten
anzugreifen, indem sie großen Regen und starken Wind auf ihn losließen. Der Sturm riss die
Äste von den Bäumen, entwurzelte die Pflanzen, brach die Stämme der großen Blumen und
schonte nur die kleinen, die nahe der freundlichen Erde wuchsen.
Der abgelegene Garten litt schwer unter dem Angriff des kriegslustigen Himmels, und als
sich der Sturm beruhigte und es aufklarte, lagen alle Blumen verwüstet da, und keine von
ihnen war dem Zorn der Natur entkommen mit Ausnahme einer Gruppe Veilchen, die sich an
der Gartenmauer verstecken. Eines der Veilchenmädchen hob seinen Kopf und betrachtete
die Tragödie der Blumen und Bäume. Dann lächelte es glücklich und rief seinen Gefährtinnen
zu: "Schaut, was der Sturm den hochmütigen Blumen getan hat!" Ein anderes Veilchen
sagte: "Wir sind zwar klein und leben nahe an der Erde, aber wir sind sicher vor dem Zorn
des Himmels." Das dritte fügte hinzu: " Weil wir arm an Größe sind, kann uns der Sturm
nichts anhaben."
In diesem Moment erblickte die Königin der Veilchen an ihrer Seite das verwandelte
Veilchen, das vom Sturm zu Boden geworfen worden war und entstellt auf dem nassen Gras
lag wie ein kraftloser Soldat auf einem Schlachtfeld. Die Königin der Veilchen erhob ihr
Haupt, rief ihre Familie zusammen und sagte: "Seht, meine Töchter, und denkt darüber
nach: das hat die Gier einem Veilchen beschert, das für eine Stunde lang eine stolze Rose
war. Lasst diese Szene für euch ein Mahnmal eures Glückes sein."
Die sterbende Rose aber bewegte sich, raffte ihre letzte Kraft zusammen und sagte ruhig:
"Ihr seid zufriedene schwache Dummköpfe. Nie habe ich den Sturm gefürchtet. Gestern noch
war auch ich glücklich und zufrieden mit dem Leben, aber diese Zufriedenheit war eine
Schranke zwischen meiner Existenz und dem Sturm des Lebens. Sie hat mich in einem
kränklichen und tatenlosen Frieden festgehalten und in einer geistigen Trägheit. Ich hätte
dasselbe Leben leben können wie ihr, die ihr euch in Angst an die Erde klammert… Ich hätte
auf den Winter warten können, der mich mit dem Leichentuch des Schnees bedeckt hätte
und mich dem Tode übergeben hätte, der sicher alle Veilchen hinwegraffen wird... Ich bin
jetzt glücklich, denn ich bin über meine kleine Welt hinausgegangen und vorgestoßen in das
Geheimnis des Universums… und das ist etwas, was ihr nicht getan habt. Es war nicht Gier,
die mich getrieben hat. Als ich in die Stille der Nacht hinaus lauschte, hörte ich, wie die
himmlische Welt zur irdischen folgenden Worte sprach: <Ehrgeiz über die Grenzen der
eigenen Existenz hinaus ist im Grund der Zweck unseres Daseins.> In diesem Augenblick
empörte sich mein Geist, und mein Herz sehnte sich nach einer Stellung, die höher war als
meine begrenzte Existenz. Ich begriff, dass der Abgrund den Gesang der Sterne nicht hören
kann, und in diesem Moment begann ich mein Kleinsein zu bekämpfen und nach etwas zu
verlangen, das nicht zu mir gehörte, so lange , bis sich mein Aufruhr in eine starke Kraft
verwandelte und mein Verlangen in schöpferischen Willen.
Die Natur, die der Gegenstand unserer tiefen Träume ist, gewährte mir mein Verlangen und
verwandelte mich mit ihren Zauberhänden in eine Rose." Die Rose verstummte für einen
Augenblick, und mit vergehender Stimme, die gemischt war mit Stolz auf die eigene
Leistung, sagte sie: "Eine Stunde lang habe ich als stolze Rose gelebt. Eine Zeitspanne lang
habe ich gelebt wie eine Königin. Ich habe das Universum mit den Augen einer Rose
betrachtet. Ich habe das Flüstern des Himmels mit den Ohren einer Rose vernommen und
die Strahlen des Lichtes mit den Blütenblättern einer Rose berührt.
Ist jemand hier, der eine solche Ehre für sich in Anspruch nehmen kann?" Nachdem sie so
gesprochen hatte, senkte sie ihren Kopf und sprach mit auslöschender Stimme: "Ich werde
sterben, denn meine Seele hat ihr Ziel erreicht. Mein Wissen umfasst jetzt eine Welt, die
jenseits der engen Höhle meiner Geburt liegt. Das ist das Abbild des Lebens… Das ist das
Geheimnis der Existenz." Die Rose erzitterte, faltete langsam ihre Blütenblätter zusammen
und tat ihren letzten Atemzug mit einem himmlischen Lächeln auf den Lippen: einem
Lächeln der erfüllten Hoffnung und des erreichten Lebensziels, einem Lächeln des Sieges -
dem Lächeln eines Gottes.
(Khalil Gibran)
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